Das Konzept

Das Konzept

Espace de Liberté

Die ursprüngliche Idee aus Frankreich

Beschreibung 

In Frankreich wuchs ab den 1970er Jahren das Verständnis über Flüsse und Auen. Diese wurden vermehrt als dynamischer Raum mit einem hohem ökologischen Potential und als Pufferraum zum Schutz des Menschen und seiner Nutzungsräume wahrgenommen (Charrier 2012 und darin enthaltene Literatur). Durch diese Erkenntnisse wurde die Notwendigkeit deutlich, dass die Eigendynamik des Flusses nicht mit menschlicher Landschaftsarchitektur nachzubilden ist, sondern dass sich naturnahe Verhältnisse nur durch naturnahe Prozesse einstellen. Dafür ist Raum erforderlich, der an vielen Flüssen über die derzeitige Flächenverfügbarkeit hinausgeht. Dieser Raumanspruch jedes Flusses galt es festzustellen und für den Fluss zu sichern.
Um die Prozesse und Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Auenkomponenten und damit eine ökologische und nachhaltige Gewässer- und Auenentwicklung zu ermöglichen, wurde an Allier (Abbildung 1) und Loire ein Konzept zum Flächenbedarf von Gewässern durch den SDAGE (Leitplan zur Bewirtschaftung und Verwaltung von Gewässern in Frankreich, Malavoi et al. 1998) entwickelt (Hudin 2010). Dieses beruht auf der aktuellen und der jüngeren historischen Entwicklung der Gewässerstruktur. In der ausgewiesenen Fläche darf sich der Flusslauf verändern und beispielsweise auch durch seitliche Erosion verlagern. Dadurch können sich typische Flussstrukturen ausbilden und die natürlichen Funktionen können wieder besser erfüllt werden (Abbildung 2). 
Eine Besonderheit des französischen Konzeptes ist, dass es in der Gesetzgebung verankert ist. Dadurch sind die Vorgaben bindend für die Gewässerbewirtschaftung und Planungen in und an den Gewässern. Beispielsweise besteht seit 2001 ein Verbot von Kiesabbau innerhalb des Entwicklungskorridors (Ministerialerlass vom 24.01.2001) und seit 2002 dürfen Ufersicherungen bei morphologisch dynamischen Fließgewässern nicht mehr den Entwicklungskorridor einschränken (Erlass vom 13.02.2002) (Hudin 2010, Charrier 2012).
Abbildung 2: Schema des Espace de Liberté-Konzepts (nach Malavoi et al. 1998).

Vorgehen

Die notwendige Fläche für die Ausbildung der Fluss- und Auenstrukturen wird bestimmt und durch den sogenannten funktionellen Entwicklungskorridor dargestellt. Die Bemessung erfolgt durch eine Überlagerung und Abgrenzung verschiedener Räume anhand der folgenden Schritte (Malavoi et al. 1998, Charrier 2012), hier mit Beispielkarten der Blies im Saarland:

1)      EMAX (Espace de Mobilité maximal)

= Maximaler Mobilitätsraum

  • entspricht der deutschen Bezeichnung der morphologischen Aue (rezente Aue und Altaue, für die Begrifflichkeiten siehe "Die Bedeutung von Flüsse und Auen")
  • wird durch topographische und geologische Karten abgegrenzt
Die Bedeutung von Flüssen und Auen

2)      Historischer Verlagerungsraum

  • Raum, der in den letzten ca. 200 Jahren vom Gewässer genutzt wurde
  • wird durch historische Karten mit dem eingezeichneten Flusslauf abgegrenzt

3)      Theoretische Gleichgewichtsbreite

  • Gewässerbreite bei bordvollem Abfluss (vollständige Wasserfüllung des Flussbetts bis zur Böschungsoberkante) wird ermittelt 
  • Breite auf jeder Gewässerseite fünfmal angefügt
Überlagerung der ermittelten Flächen aus den Punkten 1-3: erster funktionaler Raum

4)      EFONC (Espace de Mobilité fonctionnel)

= Funktioneller Entwicklungskorridor

  • Restriktionsflächen, d. h. Gebiete mit hoher infrastruktureller Bedeutung bzw. hohem wirtschaftlichem Wert wie Wohngebiete, wichtige Verkehrsverbindungen usw. werden aus der zuvor bestimmten Überlagerungsfläche herausgenommen, da in diesen keine Fluss- und Auenentwicklung stattfinden kann

Möglichkeiten der detaillierteren Korridorausweisung nach dem Espace de Liberté Konzept:

1) Reduzierung: EMIN (espace de mobilité minimal)

Minimaler Funktioneller Entwicklungskorridor

  • weitere, "strengere" Reduzierung des Korridors, beispielsweise, wenn Restriktionen nicht verlegt werden können oder durch strengere Ausweisung von Restriktionsflächen, wie (punktuellen) Aussparungen innerhalb oder am Rand des ermittelten EFONC (z. B. Kiesgruben, Brunnenschächte, einzelne Gebäude etc.)

2) Erweiterung: Ergänzung von ER50 

= Erosionszonen

  • Erweiterung des EFONC durch Integration von Erosionszonen möglich, die voraussichtlich in den nächsten 50 Jahren von Ufererosion betroffen sind
  • werden durch numerische Modellierungen ermittelt

Freier Pendelraum für Fließgewässer

Übertragen des Konzeptes auf die Verhältnisse in Deutschland

Beschreibung

Ausgehend von dem französischen Konzept Espace de Liberté, welches für jedes Fließgewässer anhand von dessen historischer Verlagerung und der Gewässerbreite den notwendigen Flächenbedarf für eine naturnahe Entwicklung bestimmbar macht, soll nun auch für Deutschland ein Konzept entwickelt werden. Wie lässt sich die französische Idee auf die vielfältigen deutschen Fließgewässer von den Alpen bis ins norddeutsche Tiefland anwenden?

Aktuelles Bild: Häufig kein Pendelraum an Flüssen vorhanden

Abbildung 4: Viele Flüsse wurden für die Nutzung der fruchtbaren Auenflächen begradigt und häufig auch eingedeicht 
(Quelle: http://obv.nordestbsl.org/espace-de-liberte.html).
Abbildung 5: Beidseitig eingedeichte Ammer bei Weilheim in Oberbayern (Foto: I. Becker, 2017).
Flüsse begradigt und eingedeicht

Trennung von Fluss und Aue

Verlust dynamischer Lebensräume wie Steilufer, Sand- und Kiesbänke 

„unproblematische“ Überschwemmungsflächen gehen zurück
 Erodierung und Eintiefung der Flusssohle

ökologische Einschränkungen

Gefährdung auentypischer Tier- und Pflanzenarten

Gefährdung menschlicher Nutzungsräume
In Deutschland und auch an vielen anderen mitteleuropäischen Flüssen bietet sich häufig das Bild von begradigten Gewässern, die von starren Uferverbauungen und Deichen eingefasst sind, wie beispielsweise an der Ammer bei Weilheim in Oberbayern (Abbildung 20). Dies hemmt die natürliche Dynamik und schränkt die Möglichkeiten der Fluss- und Auenentwicklung ein. Durch die verringerte Flächenverfügbarkeit des Flusses kommt es auch zum Verlust von dynamischen Lebensräumen entlang des Flusses, wie Steilufern, Sand- oder Kiesbänken. 
Die durch den Deich abgetrennte Aue ist höchstens über Druckwasser (an die Oberfläche drückendes Grundwasser bei steigendem Wasserstand im Fluss) oder einmündende Gewässer an die Hochwasserdynamik des Gewässersystems angebunden und es kommt zu ökologischen Einschränkungen und einer Trennung zwischen Fluss und Aue. Die an die Überflutungen angepassten Tiere und Pflanzen werden von einwandernden Arten von außerhalb der Auenzone verdrängt. Zudem werden wichtige Überschwemmungsflächen, die für die Entlastung bei Hochwasser mit dem Fluss verbunden sein müssen und in denen die Überschwemmungen keinen Schaden anrichten können, immer seltener.

Zukünftige Entwicklung? Freien Pendelraum für Flüsse zur Verfügung stellen!

Abbildung 6: Haben die Flüsse mehr Raum können sie sich eigendynamisch verlagern und unterschiedliche Lebensräume entstehen (Quelle: http://obv.nordestbsl.org/espace-de-liberte.html).
Abbildung 7: Ammer mit flusstypischen Kiesbänken bei Peißenberg (ca. 20 km flussauf von Weilheim i. O.) (Foto: I. Becker, 2018).
  • Konzept: Fluss einen definierten Korridor (= Pendelraum) zur Verfügung stellen, in dem er sich frei bewegen kann und für den Flusstyp charakteristische Strukturen ausbilden kann
  • dafür wird die Eigendynamik des Flusses und die landschaftsgestaltende Kraft des Wassers genutzt
  • innerhalb des Pendelraums werden:
    • Lebensräume für auentypische Pflanzen- und Tierarten geschaffen und nachhaltig gesichert: Erhaltung und Förderung der Biodiversität
    • Ökosystem-Dienstleistungen für den Menschen bereitgestellt (Grundwasserreinigung, Nährstoffrückhalt, Erholung etc.) 
    • Erreichen naturschutzfachlicher Ziele und europäischer Vorgaben, wie der Natura2000-Richtlinie oder der Wasserrahmenrichtlinie
    • Verbesserter Hochwasserschutz durch die Bereitstellung von unproblematischen Überschwemmungsflächen (wirksamer Puffer auch für veränderte Abflussbedingungen durch den Klimawandel)
  • auch siedlungsnah und im genutzten Kulturland ist eine ökologische Aufwertung möglich
  • geringer Ressourceneinsatz und Unterhaltungsaufwand
Platz für die Flüsse, ohne dass sie ständig mit den Nutzungsinteressen der Gesellschaft kollidieren (= frühzeitiges Entschärfen von Konflikten)
Maximum an natürlichen Prozessen und Ökosystem-Dienstleistungen der Flusslandschaften kombiniert mit einem Minimum an Unterhaltungsaufwand
Die Idee des auf Deutschland zu übertragenden Konzeptes sieht nun vor, Fließgewässern einen definierten Korridor (den „Freien Pendelraum“) zur Verfügung zu stellen, in dem sich der Fluss frei bewegen kann. Dafür muss für jeden Fluss bzw. jeden Flussabschnitt mit homogenen Eigenschaften die benötigte Gewässerentwicklungskorridorbreite bestimmt werden, die dem Fluss zur Verfügung gestellt werden kann (genaues Vorgehen s. u.).
Die benötigten Flächen müssen gesichert werden. Besonders eignen sich Flächen, die sich bereits im öffentlichen Eigentum bzw. im Eigentum von Naturschutzstiftungen u. ä. befinden, Privatflächen sollten erworben bzw. mit flussferneren Flächen im öffentlichen Besitz getauscht werden. Für einige Maßnahmen oder auch Flächenerwerb können Förderungen geltende gemacht werden. Details zu diesen Vorgehensweisen sind auf der Seite „Umsetzungsdetails“ erklärt.
Nach Entfernen vorhandener Ufersicherungen, ggf. des Sohlverbaus und anderer Einschränkungen des Flusslaufs in diesem Bereich werden zunächst keine weiteren Eingriffe durchgeführt, sondern der Fluss darf sich innerhalb des ausgewiesenen Pendelraums frei bewegen. Durch das Nutzen der landschaftsgestaltenden Kraft des Gewässers können sich einerseits die für den Flusstyp charakteristischen Strukturen und Lebensräume ausbilden und andererseits werden dadurch sowohl die Baukosten für sonstige Renaturierungsmaßnahmen als auch die Unterhaltungskosten der Ufersicherungen verringert. Bauliche Maßnahmen werden nur lokal in Erwägung gezogen, wenn der Fluss an erosionsanfälligen Stellen den Rand des Pendelraums erreicht oder wenn der Fluss durch den Menschen bereits so stark verändert und beispielsweise eingetieft ist, dass sich ohne Initialmaßnahmen kaum Strukturen entwickeln.
In den Flächen innerhalb des Freien Pendelraums werden dynamische Prozesse zugelassen, welche für das Funktionieren einer Aue charakteristisch und notwendig sind. Dies bedeutet gerade in flussnahen Bereichen eine ständige Veränderung der Standortbedingungen. Dadurch entstehen kleinräumig unterschiedlich Strukturen und damit viele Lebensräume für die auentypischen Pflanzen- und Tierarten, die durch die menschlichen Einwirkungen in Flusssysteme heute häufig gefährdet sind. Diese Lebensräume werden im Pendelraum wirksam und nachhaltig geschützt. 
Ein weiterer Vorteil durch die Einrichtung eines Pendelraums ist, dass die Auenflächen wieder direkt mit dem Fluss verbunden sind, wodurch sich eine Reihe von Synergien ergibt. Neben der erwähnten Erhaltung der Biodiversität wären auch weitere Ökosystemdienstleistungen, wie Nährstoffrückhalt in den Auen, Grundwasseranreicherung und –filterung verbessert. Auch naturschutzfachliche Ziele, wie die europäischen Vorgaben zum Arten- und Biotopschutz durch das Natura 2000-Netz aus Schutzgebieten oder die Wasserrahmenrichtlinie zur länderübergreifenden nachhaltigen Wasser- und Gewässernutzung, werden durch den Pendelraum gefördert. Das Konzept leistet dadurch einen wichtigen Beitrag zur Erreichung der in den oben genannten Richtlinien festgelegten Ziele. 
Ein wichtiger Effekt ist zudem die Bereitstellung von unproblematischen Retentionsflächen entlang der Flüsse. Diese können im Hochwasserfall überschwemmt werden, ohne die menschlichen Nutzungsräume zu schädigen. Die in der Aue lebenden Pflanzen- und Tierarten sind an die regelmäßigen Überschwemmungen angepasst. Bei zukünftigen Abflussänderungen, beispielsweise einer erhöhten Hochwassergefahr durch den Klimawandel, wäre der zusätzliche Raum entlang der Flüsse ein wirksamer Puffer, um diese abzufangen.
Das Konzept des Freien Pendelraums zusammengefasst:
Durch die Ausweisung des Freien Pendelraums wird einem Fluss eine definierte Fläche zur Verfügung gestellt, in der er sich frei bewegen kann, ohne ständig mit den Nutzungsinteressen des Menschen zu kollidieren. Dabei wird ein Maximum an natürlichen Prozessen und Ökosystem-Dienstleistungen der Flusslandschaften mit einem Minimum an Unterhaltungsaufwand kombiniert

Vorgehen bei der Ausweisung des Freien Pendelraums

Für die Ausweisung des Pendelraums wurden bereits bestehende Konzepte geprüft und ihre Anwendungsmöglichkeiten an drei Beispielflüssen getestet (siehe „Die Beispielflüsse“).

Anhand eines dreistufen Verfahrens kann der Freie Pendelraum bestimmt werden. Zunächst muss im gewünschten Gebiet ein homogener Flussabschnitt gewählt werden (Schritt 1). Für diesen Abschnitt wird als Grundlage der Flusstyp bestimmt (Schritt 2). Für die eigentliche Bestimmung der Pendelraumbreite kann je nach Verfügbarkeit der Daten des betrachteten Flussabschnittes zwischen zwei verschiedene Vorgehensweise gewählt werden (Schritt 3 A und B). Diese sind unterschiedlich komplex und können anhand lokaler Daten oder für den Flusstyp typischen Werten angewendet werden.

Schritt 1: Abgrenzen eines homogenen Flussabschnittes

Die Pendelraumbreite wird anhand verschiedener Parameter eines Flussabschnittes bestimmt. Um ein plausibles Ergebnis zu erreichen, sollten sich diese im betrachteten Abschnitt nicht grundlegend ändern. Dazu zählt beispielsweise die Geologie oder die Abflussmenge. Ändert sich im Verlauf des betrachteten Gebiets beispielsweise die geologische Einheit oder mündet ein Gewässer mit einem sehr großen Abflussvolumen im Verhältnis zum betrachteten Gewässer ein, sollte eine Teilung des Abschnittes in zwei (oder mehrere) homogene Flussabschnitte erwogen werden. Die Mindestlänge eines Abschnittes kann abhängig von der Gewässergröße und -typ sehr unterschiedlich ausfallen. Entscheidend ist, dass sich alle relevanten und charakteristischen Lebensräume des Gewässertyps innerhalb der Abschnittslänge ausbilden können. So kann die Länge bei kleinen Bächen beispielsweise nur 50 m betragen, während er an großen Strömen über 1.000 m betragen sollte.

Schritt 2: Flusstypisierung des Flussabschnittes

Abhängig von der Landschaft, die ein Fluss durchfließt, ändern sich die beeinflussenden Parameter und damit auch die Eigenschaften eines Flusses. Beispielsweise unterliegt ein Mittelgebirgsfluss einem anderen Gefälle oder erodiert anderes Gestein als ein Gewässer im norddeutschen Tiefland. Daher wird als Grundlage für die Bestimmung des Freien Pendelraums der Flusstyp des betrachteten Flussabschnitts bestimmt. 
Dafür kann für Deutschland auf die Karten und Steckbriefe der Fließgewässertypen (Pottgießer & Sommerhäuser 2008) zurückgegriffen werden. Darin wird die natürliche Ausprägung von 25 in Deutschland vorkommenden Fließgewässertypen beschrieben. Diese beinhalten Fließgewässer von Bächen (Einzugsgebietsgröße von ca. zehn bis 100 km2) bis Strömen (Einzugsgebietsgröße bis über 10.000 km2). Die Steckbriefe beschreiben die Idealzustände der verschiedenen Flusstypen wie beispielsweise ihre hydromorphologische Ausstattung, chemische Parameter und charakteristische Arten und dienen als Verständnisgrundlage für die natürliche Ausbildung und Entwicklung. 
Der jeweilige Flusstyp kann anhand von einer Typenkarte einfach bestimmt werden. Verifizieren lässt sich dies über die Beschreibung in den Steckbriefen. Passen die aufgeführten Charakteristika nicht mit den lokalen Parametern überein, sollten auch die in der Typenkarte angrenzende Flusstypen hinzugezogen werden. Eventuell ist bei diesen eine höhere Übereinstimmung zu finden. 
So könnte in der Typenkarte beispielsweise im Alpenvorland ein Fluss als Typ 1 „Fließgewässer der Alpen (Subtyp 1.1)“ eingestuft worden sein, die Kennzeichen in der morphologischen Kurzbeschreibung der Steckbriefe deuten jedoch aufgrund der geschwungenen Linienführung und des feineren Sohlsubstrats eher auf einen Fluss des Typs 2 „Fließgewässer des Alpenvorlands (Subtyp 2.1)“ hin. Dann sollte die Typisierung anhand dieser lokalen Parameter vorgezogen werden, da es passendere Ergebnisse für den Flussabschnitt liefert.

Schritt 3: Bestimmung des Pendelraums

Nach Abgrenzung des homogenen Flussabschnittes (Schritt 1) und Festlegung des Flusstyps (Schritt 2) folgt die Bestimmung der Pendelraumbreite. 
Dafür werden zwei Verfahren vorgestellt, zwischen denen sowohl abhängig von den verfügbaren Daten als auch von der Komplexität und vorhandenen Möglichkeiten ausgewählt werden kann.

Schritt 3 A) Pendelraumbreite nach UBA (Umweltbundesamt, Dahm et al. 2014)

In den „Strategien zur Optimierung von Fließgewässer-Renaturierungsmaßnahmen und ihrer Erfolgskontrolle“ des Umweltbundesamts (UBA, Dahm et al. 2014) wird u. a. die Mindestgröße des Raums für den Fluss ermittelt, der für die Entwicklung der leitbildtypischen Strukturelemente des Flusses benötigt wird. Die Entwicklungskorridorbreite wird anhand von flusstypspezifischer Faktormultiplikation mit der potentiell natürlichen Sohlbreite bzw. bei veränderten Gewässern anhand der Ausbausohlbreite berechnet (Tabelle 1). Die Herleitung basiert auf dem DWA-Merkblatt 610 „Neue Wege der Gewässerunterhaltung - Pflege und Entwicklung von Fließgewässern“ (DWA 2010). Die Aue kann solange in der bisherigen Nutzung verbleiben, bis eine Inanspruchnahme durch die eigendynamische Verlagerung des Flusslaufes bevorsteht. Erst dann wird die Flächen aus der Nutzung genommen und dem Gewässer zur Verfügung gestellt. 
Des Weiteren werden im Anhang von Dahm et al. (2014, „Hydromorphologische Steckbriefe der deutschen Fließgewässertypen“) Leitbilder der Fließgewässertypen dargestellt. Diese enthalten eine Beschreibung des heutigen potentiell natürlichen Zustandes der Flüsse, die als Bedingung für das Erreichen des in der europäischen Wasserrahmenrichtlinie geforderten sehr guten ökologischen Zustandes gesehen werden. Dafür sind Habitatskizzen und die Formeln zur Berechnung der Entwicklungskorridorbreite für jeden Flusstyp angegeben (Tabelle 1).
Die Faktoren sind flusstypabhängig in den Steckbriefen angegeben (Zusammenfassung s. Tabelle 2). 
Vorhandene Restriktionen, das heißt Gebiete mit hoher infrastruktureller Bedeutung bzw. hohem wirtschaftlichem Wert (Wohngebiete, wichtige Verkehrsverbindungen usw.), werden von dem berechneten Entwicklungskorridor abgezogen, da in diesen keine Fluss- und Auenentwicklung stattfinden kann. Nahe dem Gewässer kann ein nutzungsfreier Uferstreifen ausgewiesen werden. Die restlichen Flächen können weiter genutzt werden, bis es zu einer möglichen Gewässerverlagerung oder Erodierung durch den Fluss kommt (DWA 2010).

Schritt 3 B) Pendelraumbreite nach Bund/Länder-Arbeitsgemeinschaft Wasser (LAWA 2016) 

Um die Forderung der europäischen Wasserrahmenrichtlinie nach ökologisch funktionsfähigen Gewässern innerhalb der Kulturlandschaft zu erfüllen, wurde 2016 die Methode der Bund/Länder-Arbeitsgemeinschaft Wasser (LAWA) zur Ermittlung des Flächenbedarfes von Fließgewässern entwickelt. Die Gewässerentwicklungskorridorbreite der verschiedenen Fließgewässertypen wird dabei anhand der heutigen potenziell natürlichen Gewässerbreite unter Berücksichtigung der Mäanderlänge, der Windung sowie eines Dynamikfaktors berechnet. Dafür sind Kenntnisse über lokale hydrologische und topographische Rahmenbedingungen notwendig (Abbildung 9). Die resultierende Flächenausdehnung ist aufgrund natürlicher Varianz nicht als exaktes Rechenergebnis zu verstehen, sondern als zu erwartende mittlere Korridorbreite. Grenzen der Anwendung bestehen insbesondere bei anthropogen stark überprägten Gewässern, wie z. B. an aufgestauten Flüssen oder wenn Tagebaue im Oberlauf des betrachteten Flussabschnittes liegen.
Zusammenfassung des Vorgehens (LAWA 2016)
Für die Ermittlung des Pendelraums wurde das Verfahren der LAWA (2016a) in 8 Schritten angewendet (Abbildung 10).
Schritt 1: Ermittlung der gewässertypologischen Grundlagen
Ermittlung des biozönotischen und des morphologischen Fließgewässertyps (anhand der Fließgewässertypisierung nach Pottgiesser & Sommerhäuser (2008) und durch vorhandene oder selbst durchgeführte Gewässerstrukturkartierung (nach LAWA 2011 & 2014))
Schritt 2: Ermittlung der heutigen potenziell natürlichen Gewässerbreite 
Dieser wird durch 
  • den heutigen potentiell natürlichen bordvollen Abfluss, 
  • das Talbodengefälle, 
  • der potentiell natürlichen Windung, 
  • dem potentiell natürlichen Sohlgefälle, 
  • dem potentiell natürlichen Rauheitsbeiwert, 
  • der potentiell natürlichen Böschungsneigung 
  • sowie der Querprofilform
bestimmt.
Schritt 3: Plausibilisierung der berechneten heutigen potenziell natürlichen Gewässerbreite
Überprüfung der berechneten heutigen potenziell natürlichen Gewässerbreite mit Hilfe der Sohlschubspannung (Kraft des Wassers je Flächeneinheit der Gewässersohle): durch den Vergleich zwischen der berechneten und der gewässertypischen Sohlschubspannung 
Schritt 4: Generierung der Gewässerkorridorbreite
Die potenziell natürliche Gewässerbreite bestimmt zusammen mit der Mäanderlänge, dem Windungsgrad und einem Dynamikfaktor die Breite des heutigen potenziell natürlichen Gewässerentwicklungskorridors.

Über angegebene Formeln werden
  • die Mäanderlänge 
  • die Amplitude
  • und die Gewässerkorridorbreite
berechnet.
Daraus kann wiederum die Gewässerentwicklungskorridorbreite berechnet werden: Aufgrund der Migration der Mäander wird ein erhöhter Platzbedarf angenommen, der über einen Dynamikfaktor hinzugerechnet wird.
Schritt 5: Generierung der typspezifischen Gewässerentwicklungsfläche
Durch ein Geoinformationssystem (GIS) wird die Gewässerentwicklungsfläche in der Karte dargestellt und bearbeitet:
  • halbe Breite des ermittelten heutigen potenziell natürlichen Gewässerentwicklungskorridors beidseitig an Fließgewässer anfügen 
  • Verschneidung mit morphologischer Aue: die Flächen sind im durch den Geländeanstieg vor Ort begrenzt, daher werden alle über die morphologische Aue hinausreichenden Flächen abgezogen
  • Ausgleich entfallener Gewässerentwicklungsfläche: eventuell entfallene Flächen können auf der gegenüberliegenden Seite als Ausgleich zugeschlagen werden (wiederum begrenzt durch die Ausdehnung der morphologischen Aue)
Schritt 6 / Schritt 7: Ermittlung des Flächenbedarfs für den sehr guten / guten ökologischen Zustand bzw. das höchste / das gute ökologische Potenzial
Es wird der sehr gute Zustand bzw. das höchste ökologische Potenzial angestrebt und damit die maximale Bereitstellung der Flächen angestrebt (Schritt 6). Ist dies nicht möglich, kann der reduzierte Flächenanspruch gewählt werden (Schritt 7)
  • Ermittlung der Fließgewässerkategorie NWB (natural waterbody - natürlicher Oberflächenwasserkörper) oder HMWB (heavily modified waterbody - erheblich veränderter Oberflächenwasserkörper): durch wasserblick.net, die Landesumweltämter und/oder die WRRL-Daten der Länder
    • Für NWB: 
      • Schritt 6: Flächenbedarf entspricht der Ausdehnung der typspezifischen Gewässerentwicklungsfläche, keine Reduzierung
      • Schritt 7: Flächenbedarf entspricht 70 % des Bedarfs der typspezifischen Gewässerentwicklungsfläche, um die Ausbildung morphologischer Strukturen und Habitate zu gewährleisten
    • Für HMWB: Bildung von Belastungsfallgruppen, die die Nutzung im Gewässerumfeld und dadurch auch die unterschiedlichen Flächenansprüche in der Gewässerentwicklung berücksichtigen; Belastungsfallgruppen anhand des „Handbuch zur Bewertung und planerischen Bearbeitung von erheblich Veränderten (HMWB) und künstlichen Wasserkörpern (AWB)“ (LAWA 2013); darin prozentualen Flächenbedarfsanteil wählen 
Schritt 8: Ermittlung und Berücksichtigung von Restriktionsflächen
  • Relevante Restriktionen (Siedlungslagen, Verkehrswege und Leitungstrassen) werden ermittelt, z. B. über das „Digitale Basis-Landschaftsmodell“ (ATKIS Basis-DLM) der Arbeitsgemeinschaft der Vermessungsverwaltungen der Länder der Bundesrepublik Deutschland (AdV) oder durch Luftbilder und mithilfe von GIS vom Gewässerentwicklungskorridor abgezogen
  • Ausgleich entfallener Gewässerentwicklungsfläche: auf der gegenüberliegenden Seite des Gewässers Restriktionsflächen als Ausgleich zuschlagen (begrenzt durch Ausdehnung der morphologischen Aue oder weiteren Restriktionen)
Die vorgestellten Konzepte wurden im Rahmen des Pendelraum-Projekts an drei Beispielflüssen mit unterschiedlichen Standort-bedingungen in Deutschland angewendet und die Ergebnisse des Raumbedarfs verglichen.
Anwendung an den Beispielflüssen
Share by: